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Natacha Guillaumont: «Für uns ist ein begrüntes Dach nur das vernachlässigte Stiefkind eines Projekts»
Natacha Guillaumont: «Für uns ist ein begrüntes Dach nur das vernachlässigte Stiefkind eines Projekts»
Die HES-SO bietet seit 2019 gemeinsam mit der Universität Genf einen Masterstudiengang in Raumentwicklung (MDT) mit einer Vertiefungsrichtung Landschaftsarchitektur an. Die multidisziplinäre Projektwerkstatt führt Studierende mit unterschiedlichem fachlichem Hintergrund an die Dynamik des Lebendigen heran. Ein Gespräch mit Studienleiterin Natacha Guillaumont.
Interview: Marc Frochaux, Chefredaktor TRACÉS
Braucht die Schweiz mehr Landschaftsarchitektinnen und -architekten?
Ja. Gemäss Bundesamt für Umwelt (BAFU) müssten sechsmal mehr Landschaftsfachleute ausgebildet werden, als es aktuell der Fall ist, damit die Raum- und Landschaftsplanung in Zukunft gesichert ist. Die gesamte Branche ist unter Druck: Die Büros haben zu viel Arbeit und können der Nachfrage nicht gerecht werden, finden aber auch keine neuen Mitarbeitenden. Unsere Studierenden finden schon seit Jahren sofort eine Stelle, sogar direkt nach dem Bachelor-Abschluss. 2019 haben die Fachhochschule Westschweiz HES-SO und die Universität Genf (UNIGE) einen gemeinsamen Studiengang Raumentwicklung mit einem Masterabschluss in Landschaftsarchitektur ins Leben gerufen. Die neue Ausbildung ist die Weiterentwicklung eines bereits 2014 eingeführten multidisziplinären Masterstudiengangs. Sie richtet sich an Architekt:innen, Geometer:innen, Geograf:innen, Soziolog:innen und Landschaftsarchitek:innen, die gemeinsam planen lernen. Die meisten arbeiten daneben Teilzeit in einem Büro. Das wird einerseits dem Personaldruck in der Branche gerecht und garantiert andererseits eine praxisorientierte Ausbildung.
Bei Architekturstudierenden liegt die Landschaft gerade ziemlich im Trend. Endlich interessieren sie sich dafür und beziehen sie zunehmend in ihre Projekte ein. Sehen Sie das als positive Entwicklung?
Gefragt sind eher die Themen «Ökologie» und «Nachhaltigkeit». Es stimmt, dass Architekturstudierende zunehmend Interesse für die Landschaft zeigen. Doch sie müssten schon sehr früh im Studium an die Dynamik des Lebendigen herangeführt werden. Das architektonische Denken wird noch allzu häufig auf der Grundlage des Objekts und der Konstruktion gelehrt und nicht anhand von räumlichen Fragestellungen. Und selbst wenn solche Fragen behandelt werden, dann beschäftigen sie sich mit urbanen Strukturen, mit Überlegungen zum öffentlichen Raum, aber nicht mit dem Begriff des Lebendigen. Dadurch werden bestimmte Denkweisen konditioniert. Hat man sich in der Ausbildung mit Fragen der Flora und Fauna auseinandergesetzt, denkt man beispielsweise beim Stichwort «Dringlichkeit» automatisch an «Zeit» und nicht an ein «Objekt». Doch die Architekturschulen tun sich schwer damit, diese Geisteshaltung zu überwinden. Manche Architektinnen und Architekten halten ein begrüntes Dach für eine gute Sache, doch für uns ist es bloss das vernachlässigte Stiefkind eines Projekts.
Warum erwartet das BAFU, dass wir so viele Landschaftsfachleute brauchen?
Landschaftsarchitektinnen und -architekten fordern, dass sie zu Wettbewerben eingeladen werden, aber es gibt nicht genügend Büros und es gelingt nicht, gemeinsame Teams mit Architekten zu bilden. Die Landschaft kommt immer am Schluss, sie wird wie eine letzte Schicht hinzugefügt: Man pflanzt ein paar Bäume, oft in einzelnen, isolierten Baumgruben. Doch Landschaftsarchitektur besteht nicht darin, einzelne, gut sichtbare Bäume zu retten, sondern die Bedingungen eines «Lebensraums» und die natürliche Dynamik zu erhalten. Wir fordern, dass die Landschaft von Anfang an in ein Projekt einbezogen wird, dass sie Teil der Abwägungen von Wirtschaftlichkeit, Ökologie und baulicher Einbettung ist. In dieser Phase werden die Fragen behandelt, die für eine langfristige Entwicklung der Flora und Fauna entscheidend sind: Entwässerung, bodenkundliche Untersuchungen, der Erhalt der Bodenbedeckung und vor allem die Gewährleistung von zusammenhängenden Freiflächen und Wurzelnetzwerken.
Das BAFU stellt einen anderen Aspekt in den Vordergrund: die Biodiversität, um den derzeit gewaltigen Verlusten an Vielfalt entgegenzuwirken, und im Besonderen die Dynamisierung. Wir müssen noch besser erklären, dass Landschaftsgestaltung dies nicht etwa behindert, sondern im Gegenteil zur Stärkung der Ökosystemleistungen beiträgt: Je besser die landschaftsarchitektonische Qualität, desto grösser die Chance, dass die Biodiversität erhalten bleibt.
Ich habe den Eindruck, dass die Städte grosse Anstrengungen zur Verbesserung des öffentlichen Raums unternommen haben, etwa zur Bekämpfung von Wärmeinseln.
Ja, aber sie setzen am falschen Ende an. Sie konzentrieren sich auf einzelne Zonen, pflanzen dort ein paar neue Bäume. Dabei müsste vor allem das erhalten werden, was noch da ist. Klar, man hat grüne Infrastrukturen identifiziert und versucht, sie zu erhalten, aber die Abstände in diesen Zonen müssen hinterfragt werden, denn die Bäume werden künftig Probleme haben. In Projekten der öffentlichen Hand geht es noch, aber ich sehe so viele Immobilienprojekte, in die keine Landschaftsfachleute einbezogen werden, bei denen sich niemand für Freiflächen, einheimische Flora oder Wurzelnetzwerke interessiert. Es ist, als ob man darauf zählen würde, dass sich die «Kraft der Pflanzen» durchsetzt, dass sie immer wieder neu entstehen. Doch die Flora leidet unter der Klimaerwärmung und viele Arten sind bedroht. Man sollte sich vielmehr fragen, warum ein Lebensraum funktioniert, solange er dies noch tut. Wenn zusammenhängende Grünräume, Fliessgewässer und das landschaftliche Gerüst verschwinden, geht ein bereits vorhandenes System für Wasser- und Luftzirkulation verloren. Man möchte heute nach innen verdichten. So weit, so gut, aber gewisse Entscheidungen werden sich auf die nächsten Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte auswirken und können nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Es ist ungewöhnlich, dass so viele Fachrichtungen in einem einzigen Studiengang zusammengefasst werden. Wie schaffen Sie ein gut durchmischtes multidisziplinäres Umfeld?
Unser pädagogischer Ansatz basiert auf dem Lernen in der Projektwerkstatt und am Entwurf. So wird gemeinsames Arbeiten möglich. Für Studierende, die nicht über das nötige Vorwissen im Entwurf oder über die nötigen Artenkenntnisse verfügen, bieten wir betreute Selbstlernkurse an. Für andere ist das prozessuale Arbeiten in Projekten neu. Das ist mitunter schwierig für Studierende, die gelernt haben, Ergebnisse zu liefern, wie etwa die Geometer:innen. Alle müssen offen für die Kompetenzen der anderen sein, auch im jungen Alter ein offenes Ohr für die Sichtweise anderer Fachrichtungen haben. Eine ehemalige Studentin hat mir einmal gesagt, sie habe bei uns das Zusammenarbeiten gelernt und sie erkenne seither sofort, wenn andere das nicht könnten.
Für welchen Beruf bilden Sie Ihre Studierenden aus?
Wir verleihen den Titel «Landschaftsarchitekt:in». Diese Disziplin wurde vor mehreren hundert Jahren von Frederick Law Olmsted begründet. Unsere Studierenden haben zuvor einen «Bachelor of Science»– nicht «of Arts» – absolviert und verfügen über einen Ingenieurtitel. Früher unterschied man zwischen Kultur-, Bau- und Umweltingenieuren, die sich mit der Art befassen, wie die Elemente funktionieren und interagieren. Ich mag diese Vorstellung, denn sie hilft zu verstehen, dass die Dynamik des Lebendigen zuerst verstanden, dann respektiert und begleitet werden muss. Auch das Lebendige wird hergestellt.
Wie sieht die Lehre in Ihrem Bachelor- und im Masterstudiengang konkret aus?
Wir verfolgen einen kompetenzorientierten Ansatz und integrierte Projektarbeit: Alle Fächer, einschliesslich Geschichte und Theorie, sind der Projektwerkstatt untergeordnet. Inzwischen haben wir praktisch keine allgemeinen Kurse mehr, wir beziehen lieber Expertinnen und Experten für die einzelnen Standorte und ihre Problemstellungen ein. Jedes Semesterprojekt befasst sich mit einem realen Standort und dessen Randbedingungen. Dafür arbeiten wir mit Gemeinden, Vereinen oder Institutionen zusammen, die ein reales Problem lösen müssen, behalten uns aber eine gewisse pädagogische Freiheit vor. Schon auf Bachelor-Stufe arbeiten wir mit verschiedenen Grössenordnungen, von der Kleinfläche über den Park bis zum Quartier. Im Master-Studium erweitert sich die Arbeit dann auf die kommunale und die regionale Ebene. Wir gehen so oft wie möglich vor Ort und treffen die jeweiligen Akteure. Einzig logistische Aspekte hindern uns daran, den Unterricht jeden Tag im Grünen abzuhalten. Den Umgang mit der Landschaft schult man im Freien, im Kontakt mit dem Lebendigen.
Welche Haltung nehmen die Dozierenden in diesem Projektansatz ein?
Die Dozierenden müssen ihren Unterricht immer wieder an die einzelnen Projekte anpassen. Das ist recht anspruchsvoll. Im Zentrum stehen aber die Studierenden, nicht die Dozierenden: Wir begleiten sie auf dem Weg zu einer eigenen Vision, dürfen uns also nicht in den Vordergrund drängen. Die Dozierenden stehen hinter diesem Ansatz und sagen nur selten: «Schaut einmal, wie ich es mache.» Ich habe bei Gilles Clément studiert, der es sehr gut verstand, nicht «auf Schule zu machen» (obwohl er es in Wirklichkeit tat), nicht einfach ein Projekt vorzulegen, sondern «sich ans Werk zu machen». Wenn man mit der lebendigen Natur zu tun hat, ergibt das keinen Sinn.
Gelingt es Ihnen, das landschaftsarchitektonische Denken auch in andere Kontexte einfliessen zu lassen?
Gemeinsam mit Anne Sgard, Professorin an der UNIGE, leite ich ein Forschungsprojekt zur Landschaftsdidaktik und wir denken, dass diese Thematik schon auf der Sekundarstufe unterrichtet werden müsste. Wir sind überzeugt, dass die Landschaft die Chance bietet, bessere Bürger:innen heranzubilden, denn sie umfasst drei Aspekte, die für alle Menschen relevant sind: Wahrnehmung, Politik und Komplexität. Die Landschaft verbindet.